HT 2021: Die Sprache des Feindes: Deutschsprachige Akten in israelischen Archiven

HT 2021: Die Sprache des Feindes: Deutschsprachige Akten in israelischen Archiven

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Julia Schneidawind

Die deutsche Sprache ist nicht nur verbindendes Element einer langen europäischen jüdischen Geschichte und Tradition, sondern darüber hinaus eng mit der Gründungsgeschichte des Staates Israel verwoben. Gleichzeitig schwingt in ihr als Sprache des Nationalsozialismus aber auch unweigerlich eine Rhetorik des Verbrechens mit. In all dieser Ambivalenz ist die deutsche Sprache bis heute in israelischen Archiven und Bibliotheken allgegenwärtig.

MICHAEL BRENNER (München/Washington D.C.) betonte in seiner Einführung der von ihm und YFAAT WEISS (Jerusalem/Leipzig) geleiteten Fachsektion diese Komplexität, die mit deutschsprachigen Archivquellen und Literaturnachlässen in Israel bis heute in Verbindung steht und hob gleichzeitig hervor, welche Bedeutung diesen Zeugnissen als historisches Erbe für die Geschichtswissenschaft zukomme. Die heute in Israel überlieferten deutschsprachigen Quellen seien nicht nur für eine Aufarbeitung der NS-Geschichte zentral, sondern bildeten auch für Fragen nach Provenienz und kultureller Zugehörigkeit wichtige Ausgangspunkte. Alle drei Beiträge der Sektion näherten sich der Thematik von unterschiedlichen Perspektiven und unter Heranziehung unterschiedlicher israelischer Archivbestände.

In seinem Beitrag „Die Akten des Feindes“ verfolgte TOM SEGEV (Jerusalem) die Spuren der Archivalien aus dem deutschen Konsulat in Jerusalem und zeigte auf, wie sich anhand dieses vorwiegend administrativen und juristischen Materials, das nur in kleinen Teilen in Jerusalem erhalten ist, mannigfaltige Zugänge zu historischen Fragestellungen eröffnen. Wie Segev rekonstruierte, fanden 169 Akten aus dem zwischen 1871 und 1939 bestehenden Konsulat ihren Weg in das Staatsarchiv Israel. Dabei schilderte der Historiker und Journalist zunächst die faszinierenden Überlieferungswege der Archivalien, welche in Teilen in den 1950er-Jahren zufällig von einer israelischen Polizeistreife in einem arabischen Altpapierlaster entdeckt und zum für Altpapier üblichen Kilo-Preis vom israelischen Staatsarchiv angekauft wurden. Weitere Dokumente kamen über antiquarische Ankäufe in das Archiv, welches heute einen Großteil seiner Akten online zugänglich macht. Segev verwies auf die historische Bandbreite, die diese archivalischen Bruchstücke abdeckten. So spiegelten sich in ihnen beispielsweise nicht nur die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten und dem Osmanischen Reich oder die jüdische wie nichtjüdische Einwanderungsgeschichte Palästinas im 19. und frühen 20. Jahrhundert, sondern diese gäben auch tiefe Einblicke in die engen Verbindungen der britischen Mandatsmacht in Palästina mit dem NS-Staat. Die Konsulatsakten, so erläuterte Segev, legten dar, wie nach 1933 weiterhin enge Beziehungen zwischen Palästina und Deutschland fortbestanden. Etwa gäben sie tiefe Einblicke über die Verhandlungen um das Transferabkommen zwischen NS-Deutschland und dem britischen Mandatsgebiet. Das sogenannte Havara-Abkommen ermöglichte es deutschen Juden, nach Abgabe eines Teils ihres Vermögens nach Palästina einzuwandern, und wurde obschon seines umstrittenen Charakters rückblickend „die größte Rettungsaktion für Juden während der ganzen Zeit des Holocaust“, so der Historiker. Schließlich transportierten die Akten auch die ganze Absurdität und Tragik „hinter einer alphabetisch geordneten Konsulatsbürokratie“. So lasse sich anhand der Akten nachzeichnen, wie deutsche Juden, die sich bereits nach Palästina hatten retten können, weiterhin mit der NS-Bürokratie konfrontiert waren. Segev zeigte an Beispielen, wie sich deutsche Juden im deutschen Konsulat in Jerusalem mit den von den NS-Behörden vorgeschriebenen Namen „Israel“ und „Sara“ registrieren mussten. Seinen Beitrag schloss Segev mit dem Resümee, dass die Geschichtswissenschaft auch aus den „allertrockensten administrativen Registraturen historische und menschliche Dramen“ lernen könne und hob damit hervor, welchen Quellenwert dieser Aktenbestand gerade für die Opfergeschichte darstellt.

YFAAT WEISS (Jerusalem/Leipzig) stellte in ihrem Vortrag „Unter sich: Jerusalemer Gelehrte und die deutsche Sprache“ die Frage nach dem Stellenwert der deutschen Sprache im Jerusalemer Gelehrtendiskurs in den Fokus. Als Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung wählte die Historikerin in einer Momentaufnahme des Jahres 1948 deutschsprachige Dokumente um den in Magdeburg geborenen Rabbiner Kurt Wilhelm (1900-1965). Wilhelm, der nach seiner Ausbildung am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau und am Jewish Theological Seminary in New York 1933 nach Palästina ausgewandert war, galt nicht nur als wichtige Stimme der liberalen jüdischen Gemeinde Israels, sondern war auch wichtiger Beobachter der Ereignisse um den Krieg und die Gewaltakte, die mit der israelischen Staatsgründung 1948 in Verbindung standen. Wilhelm wurde, als er bei einem von arabischer Seite verübten Terrorangriff 1948 einen Teil seiner Familie verlor, persönliches Opfer, setzte sich aber fortwährend für die jüdisch-arabische Koexistenz in Palästina/Israel ein. In dieser nicht unumstrittenen Rolle führte Wilhelm um den Kreis der Hebräischen Universität umfassende deutschsprachige Korrespondenz, unter anderem mit Ernst Simon, Hugo Bergmann, Martin Buber oder Salman Schocken, wie Weiss anhand einer Auswahl von Dokumenten anschaulich darstellte und damit aufzeigte, wie das Deutsche sowohl als informelle, aber auch offizielle Kommunikationssprache im Gelehrtendiskurs von Jerusalem fungierte. Anhand des erst vor kurzem konservierten Historischen Archivs der Hebräischen Universität sowie deutschsprachigen Quellenmaterials aus dem Central Zionist Archive und der Israelischen Nationalbibliothek, stellte Weiss in unterschiedlichen Konstellationen dar, wie der intellektuelle Zirkel nicht nur persönliche Sorgen und Ängste, sondern auch öffentliche Kritik an den politischen Geschehnissen in deutscher Sprache teilte. So zeigte die Historikerin etwa anhand der Aufzeichnungen Wilhelms und anderer deutsch-jüdischer Intellektueller um die Universität Jerusalem, wie der in diesem Diskurs häufig gewählte Terminus „Kriegspsychose“ in Bezug auf die Gewalt in Palästina/Israel als Analogie der jüngeren deutschen Kriegs-Vergangenheit aufgefasst, und der Begriff zu einer Chiffre des deutsch-jüdischen Intellektuellenkreises in Jerusalem wurde. Nur in ihrer „eigenen Sprache“, dem Deutschen, war eine intime Beobachtung und Verarbeitung der Ereignisse deutscher Juden in Israel möglich, so Weiss. Am Ende war es auch die Bedeutung der „Tradition des deutschen Judentums“ für das Diaspora-Judentum, auf die Wilhelm seinen Weggang aus Jerusalem nach Stockholm stützte. Der von Yfaat Weiss zitierte Abschiedsbrief Wilhelms an Salman Schocken zeigte dabei nicht nur, wie Wilhelms Muttersprache die Worte des Abschieds aus Jerusalem formte, sondern die Zeilen deuteten an, wie der Rabbiner und Gelehrte bis zu seinem Tod 1965 in Stockholm über und in der deutschen Sprache mit Israel verbunden blieb. Die Jahre nach dem Abschied aus Israel und die Verdienste Kurt Wilhelms als Rabbiner in Stockholm zu analysieren, sah Yafaat Weiss abschließend als die Aufgabe zukünftiger Forschung.

Der dritte und abschließende Beitrag der Sektion von STEFAN LITT (Jerusalem) stand unter dem Titel „Der Prager Kreis in Jerusalem. Die Bedeutung deutschsprachiger Nachlässe in der Israelischen Nationalbibliothek“. Der Historiker und Archivar ging darin den Fragen nach, in welcher Form die deutsch-jüdische Tradition, insbesondere in literarischer Ausdrucksform, in israelischen Archiven erhalten bleibt und welche Rolle dabei der Israelischen Nationalbibliothek bei der Bewahrung deutschsprachiger Nachlässe zukommt. Während in dem Einwanderungsland Israel im Hintergrund der neugeschaffenen Hebräischen Kultur eine Vielzahl an Sprachen weiterexistierten, kam gerade dem Deutschen eine tragende, wenn auch umstrittene Rolle zu. Zum einen war das Deutsche die Sprache wichtiger Strömungen, wie etwa der jüdischen Aufklärung oder des Zionismus. Gleichzeitig wurde sie als Sprache des Nationalsozialismus in Israel geächtet. Im „Halboffiziellen und Privaten“, so Litt, sei aber das Deutsche insbesondere unter den Vertretern der israelitischen akademischen und kulturellen Elite weiterhin bedeutend geblieben, waren es gerade zahlreiche deutsch-jüdische Persönlichkeiten, die bis in die 1990er-Jahre die großen Bibliotheken und Archive leiteten und damit die Institutionen und ihre Bestände prägten. Die Sammlungen an der Israelischen Nationalbibliothek zeigten das besonders eindringlich, wie Litt exemplarisch anhand der Nachlasskonvolute um den sogenannten Prager Kreis darstellte, zu dessen innerem Kern die deutschsprachigen Intellektuellen Franz Kafka, Max Brod, Oskar Baum und Felix Weltsch zählten. Nach Skizzierung wichtiger historischer Wegmarken der Nationalbibliothek Israels verwies der Referent auf die Bedeutung, welche gerade die Nachlass-Ankäufe aus dem Umfeld des Prager Kreises seit den 1960er-Jahren für die Institution hatten, da sie diese zu einer wichtigen Verwahrstelle deutschsprachigen jüdischen Kulturerbes machten. Mit Bezug auf den aufgrund des jahrelangen Rechtstreits ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückten Nachlasses von Franz Kafka betonte Litt, dass die häufig geäußerte Annahme, die Verwahrung des Nachlasses in Jerusalem müsse heute weiter zur Debatte stehen, einer besonders intensiven Auseinandersetzung bedürfe. Hierzu sei die akribische historische Rekonstruktion der Wege des Nachlasses Max Brod und den darin enthaltenen Kafka-Dokumenten erforderlich, die Litt in ihrer ganzen Komplexität anschaulich nachzeichnete. Als Resümee und in Beantwortung auf seine Ausgangsfragen, formulierte Litt, es stehe ganz außer Frage, dass deutschsprachige Nachlässe der Nationalbibliothek in Jerusalem zum kulturhistorischen Erbe Israels gehörten. Neben der Erhaltung sei jedoch die freie Zugänglichkeit für die Forschung ein wichtiges Ziel, die mit der Verwahrung in Jerusalem geschaffen worden sei und was jedoch, wäre der Rechtstreit anders entschieden worden, heute nicht der Fall wäre.

Inwieweit ist im Deutschen mit Bezug auf deren Präsenz in israelischen Archiven und Bibliotheken also heute die Sprache des Feindes zu erkennen? In seinem abschließenden Kommentar erklärte MICHAEL BRENNER, dass bei der Zusammenstellung der Sektion die Frage leichter zu beantworten schien: es war das Deutsche, das aus den Akten und Quellen als Sprache des Nationalsozialismus sprach. Dass der deutschen Sprache in diesem Zusammenhang aber eine deutlich vielschichtigere Rolle zukommt, so Brenner, hätten alle drei Beiträge der Sektion gezeigt: Tom Segev zeigte, wie in den deutschsprachigen Akten nicht nur die Sprache der Täter, sondern auch die Sprache der Opfer festgehalten ist. Weite man die Frage aus, könne man auch das Englische als Sprache des Feindes ansehen, da es die Briten waren, die die Einreise der flüchtenden Juden aus Europa beschränkt hatten. Der Beitrag von Yfaat Weiss öffnete die Perspektive weiter: Kurt Wilhelm verarbeitete sein eigenes Familienschicksal auf Deutsch. Die Sprache jener, die ihn ins Visier nahmen, war Arabisch, dennoch sah er in ihnen nicht seine Feinde. Mit seinem Aufruf zum Dialog zwischen Juden und Arabern sahen viele in ihm, dem am Deutschen festhaltenden Immigranten, einen Feind im Inneren. Aber auch in Stefan Litts Beitrag zeigte sich, wie das Erbe auf vielen Ebenen in der Geschichte verwoben sei, wenn er am Beispiel der israelischen Nationalbibliothek anschaulich darlegte, wie die Debatte um das deutschsprachige Kulturelle Erbe in Israel weiter aktiv geführt wird.

In einer kurzen abschließenden Diskussion konnten die unterschiedlichen Themenfelder zusammengeführt werden. So betonte Yfaat Weiss, wie sich anhand deutschsprachiger Akten in Israel ein neuer, lange ignorierter Zugang öffne, der die deutsche Sprache auch als die eigene Sprache deutscher Juden begreife. Segev bemerkte abschließend, wie er sich selbst in der Geschichte Kurt Wilhelms durch seine persönliche Familiengeschichte wiederfand, womit die Aktualität der Relevanz deutschsprachiger Zeugnisse auf besondere Weise zum Ausdruck kam. Stefan Litt betonte abschließend, wie bei der Frage, wo deutsch-jüdisches Kulturgut verwahrt werden soll, die historischen Gründe mit einbezogen werden müssten, und eben gerade viele dieser Gründe für die Verwahrung deutschsprachiger Quellen in Israel sprächen. Die Fachsektion legte anschaulich und in perspektivischer Vielfalt dar, wie die deutsche Sprache in Israel heute, für die Geschichtswissenschaft, aber auch darüber hinaus eine anhaltende Rolle spielt und sich im Ergebnis nicht nur unter der Kategorie „Sprache des Feindes“ subsumieren lässt.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Michael Brenner (München / Washington D.C.) / Yfaat Weiss (Jerusalem, Leipzig)

Tom Segev (Jerusalem): Die Akten des Feindes. Dokumente aus dem Konsulat des Deutschen Reichs in Jerusalem während der NS-Zeit im Israelischen Staatsarchiv

Yfaat Weiss (Jeusalem/Leipzig): Unter sich: Jerusalemer Gelehrte und die deutsche Sprache. Aus dem Archiv der Hebräischen Universität Jerusalem

Stefan Litt (Jerusalem): Der Prager Kreis in Jerusalem. Die Bedeutung deutschsprachiger Nachlässe in der Israelischen Nationalbibliothek

Michael Brenner (München, Washington D.C.): Kommentar


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